Wüstenstimmung


Die Stille der Wüste ist absolut immens, gewaltig und dabei trotzdem ... friedlich. Die einzig wahrnehmbaren Geräusche, die ich in den Stunden seit heute morgen gehört habe waren eine plötzliche Windbrise, die vorübergehend Kühlung brachte, das omnispräsente Summen der gelben Fliegen, das unerwartete Zwitschern eines raren Wüstenvogels, das zisselnde, zischende Geräusch einer flüchtenden Eidechse, ein herunterfallender Stein oder etwas Geröll, das ins Rutschen kam und vom Wind aufgepeitschter Sand. Das ist alles. Nichts menschliches, nichts menschgemachtes.

So ist also jeder von uns heute ganz für sich unterwegs, um der Stille zu lauschen. Jeder sucht und findet seinen eigenen 'Kraftort', seinen eigenen Weg und Platz in der Stille dieser Wüste. Und vertraut darauf, nicht verloren zu gehen, hofft, die Orientierung nicht zu verlieren, in dieser uns fremden und doch schon einigermaßen vertrauten Wüste, die nichts unheimliches mehr hat, sondern sich wirklich wie eine Art 'Zuhause' anfühlt. "... wherever I roll out my carpet that's my home ..."

Immer wieder erinnere ich mich an den gestrigen Tag, den wir komplett auf unseren Kamelen verbracht haben. Ich hätte weiter und weiter reiten können, hoch oben, weit genug entfernt vom heißen Sand, die Nase im Wind. Mittlerweile verstehe ich, warum das Kamel auch als "Wüstenschiff" bezeichnet wird, es hat wirklich ein bisschen was vom Segeln, das Kamelreiten. Man wiegt hin und her, auf und nieder, mal ruhiger, mal unruhiger. Es fühlt sich an wie Seegang. Mit der Zeit lernt man einfach loszulassen, zu entspannen und sich den Bewegungen des Kamels anzupassen, sich ihnen zu 'überlassen' und den Ritt einfach zu genießen. Man muss allerdings schon achtsam bleiben, denn immer wieder einmal gibt es einen kurzen, unerwarteten Galopp oder ein paar Ausfallschritte (Kamele stolpern erstaunlich häufig ...) und dennoch: es hat etwas sehr meditatives, so zu reiten. Elegant und majestätisch schreitet sie aus, die Karawane, mit uns hoch oben auf dem Rücken der Kamele, wie Fürsten oder ... Beduinen!

Diese Wüste ist ein wirklich heilsamer Ort. Beseelt, temperamentvoll, mächtig. Jeden Tag wird der eigene Geist ruhiger, lässt immer mehr Sorgen und Ängste los, die einen Zuhause noch enorm beschäftigt haben. Irgendwie entleert sich der Geist und schafft so Raum für die vielen neuen Eindrücke und für das, was wirklich wichtig ist. Intuition, Vertrauen, Liebe, Glaube. Die grundlegendsten Dinge der Welt. Raum für den Zauber, der allem anhaftet. Wir können eine Menge von den Beduinen lernen. Es stimmt schon, was man mir vor meiner Reise gesagt hat: wir reisen mit kleinem Gepäck, was unser Hab und Gut angeht. Viel schwerer wiegt das "Seelengepäck". Der Ballast, den wir im Kopf und im Herzen mit uns herumschleppen. Und dieses Gepäck wird jeden Tag ein bisschen leichter. Nicht umsonst sind Menschen aller Kulturen immer schon in die Wüste gegangen, um mit sich ins Reine zu kommen, um Entscheidungen zu treffen, um Erleuchtung zu suchen. Hier lenkt nichts ab. Man ist ganz bei sich. Alles reduziert sich aufs Wesentliche. Die Dinge werden definitiv wieder in die richtigen Dimensionen gerückt, vieles relativiert sich auf einmal. So intensiv habe ich das sonst noch nirgendwo erlebt. Nicht in den Bergen, nicht in Wäldern, nicht am Meer. Das ist die ganz spezielle Kraft der Wüste und vielleicht speziell des Sinai, der ja angeblich zu den intensivsten und energiereichsten Kraftorten überhaupt gehören soll. Und an diesem Ort hier scheint all das noch einmal konzentriert zu sein. Eine total friedliche, entspannende und kraftvolle Stimmung herrscht hier vor.


Maria und Hans-Jürgen wollen im Herbst mit einer Gruppe hierhin kommen und 14 Tage nur an diesem Platz bleiben. Schweigend. Wow. Stelle ich mir schon ziemlich krass vor. Wenn ich mir das ausmale, ist es weniger das Schweigen, das ich mir so extrem anstrengend vorstelle, als vielmehr das anschließend wieder sprechen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass es wirklich Überwindung kostet, sich nach 14 Tagen erstmalig wieder zu "artikulieren", also nach außen zu kommunizieren. Das hat mit der Intensität des Schweigens hier zu tun. Lässt sich schwer beschreiben, ist vielleicht auch so eine "Wüstenerfahrung". Ich finde es auf den Retreats, die das buddhistische Zentrum hin und wieder veranstaltet, schon schwierig, nach den Schweigepausen wieder zu sprechen. Und dann nach dem Wochenende zurück in den Alltag zu kommen. Wenn ich mir das nun hier und 14 Tage vorstelle. Uff. Heavy stuff. Aber für zwei bis drei Tage ist's schon okay. Es ist wirklich 'tranquilo' hier. Ein Ort, um die Seele baumeln zu lassen, um die Gedanken zu ordnen und das Herz mal wieder richtig zu spüren. Es ist schön, hier zur Ruhe zu kommen, ohne andauernd wieder neue Sinneseindrücke aufnehmen zu müssen, wie es bisher während unserer Tagesmärsche der Fall war. Natürlich war das superschön, aber es wird etwas viel mit der Zeit. Man hat wenig Gelegenheit gehabt, zwischendurch das Gesehene, Gespürte und Gedachte auch wirklich zu verarbeiten. Aufzuarbeiten. Weil immer schon wieder etwas Neues zu entdecken war. Das ist hier anders.

Letzte Nacht habe ich geträumt, ich hätte einen Beduinen geheiratet, um hier bleiben zu können. Und der Gedanke war nicht einmal erschreckend. Obwohl ich nicht wirklich wild darauf wäre, für immer hier zu leben – eine Zeitlang könnte ich es mir sehr gut vorstellen.

Da sitze ich jetzt hier in dieser Schlucht, im Schatten der steilen Felsen über mir, mit den Füßen im Sand und alles erscheint mir so weit weg. Zuhause erscheint irgendwie irreal. Räume. Wände. Straßenverkehr. All das kommt mir so unnatürlich vor. Natürlich bin ich mir bewusst, dass das nun mal mein Leben ist, mein Alltag, der nur allzu schnell wieder Realität werden wird. Und doch bin ich mir sicher, dass mir vieles in einem anderen Licht erscheinen wird, wenn ich zurück bin. Die Wüste wird nicht sang- und klanglos verschwinden. Die Eindrücke, die Einsichten, die Erfahrungen ... die werden sicher etwas hinterlassen. Ich denke, keiner von uns wird gänzlich unverändert nach Hause fahren, dafür ist alles viel zu intensiv. Und viel zu schön. Keinen Tag, keine Minute meiner Zeit in der Wüste möchte ich missen. Einfach nur so zu sitzen wie jetzt, die Gedanken schweifen zu lassen, die Welt um mich herum wahrzunehmen. Das ist auch ein Phänomen: wie achtsam man auf jede Kleinigkeit wird, wenn sich die Sinneseindrücke so reduzieren. Die Wahrnehmung schärft sich absolut. Und dadurch gibt es dann doch wieder so vieles wahrzunehmen, wo man anfangs einfach nichts gesehen hat. Wie sich der Sand verändert. Nicht nur in der Farbe, auch in Struktur und Festigkeit. Wie unterschiedlich der Himmel aussieht. Die Wolken. Die Vegetation. Wieviel hier doch wächst. Die diversen unterschiedlichen Fußspuren der Tiere und Insekten. Wohin man auch schaut, es gibt fast überall etwas zu sehen. Und wo es nichts gibt, schaut man nach innen – da findet sich auch immer etwas, was schon lange einmal angeschaut werden wollte.


Langsam muss ich mich auf den Rückweg machen, es wird spät, die Schatten werden länger, bald ist Zeit für Meditation und Abendessen. Und dann wartet mein Bett auf mich. Diesmal wieder hoch oben auf einem Plateau, mit Blick auf die Kamele und auf das riesengroße Tal. Sollte es Regen geben, wonach es heute irgendwie aussieht, ist eine große Höhle in der Nähe, auf halbem Weg den Berg hinunter, da würden wir zur Not alle hineinpassen, auch die anderen, die unten schlafen. Nur unseren 'Wolfman' hat es mal wieder noch höher hinaus gezogen als Eva und mich. Er schläft ganz oben, auf dem Gipfel. Ein Weg, den ich nicht unbedingt später im Finstern zurücklegen wollte, aber er ist da recht 'schmerzfrei', bergerprobter Bayernbursche, der er ist.

Die Dunkelheit kommt hier plötzlich, jedoch nicht ganz so unerwartet, wie ich mir das immer vorgestellt habe. Diese Vergleiche, dass es wäre, als würde jemand das Licht ausknipsen, wenn es in der Wüste dunkel wird, die stimmen nicht. Es dämmert schon, allerdings in stark geraffter Form. Von der ersten, kaum wahrnehmbaren Dämmerung, bis zur wirklichen Finsternis, dauert es in dieser Jahreszeit eine knappe halbe Stunde. Aber zum Schluss geht es dann schon sehr schnell und in Nächten ohne Mond sollte man die Taschenlampe immer griffbereit haben, ganz besonders wenn man sein Nachtlager oben im Berg errichtet hat und danach zum Essen wieder herunter muss. Im Stockfinsteren über loses Geröll bergab zu stolpern ist kein wirkliches Vergnügen und sorgt für ziemlich üble Schürfwunden, wie ich erst kürzlich feststellen musste! Generell wären Verletzungen in der Wüste gar kein so großes Problem, da die Wüste relativ steril ist und es wenig Bakterien in diesem trockenheißen Klima gibt, zum Problem werden Verletzungen erst durch die Fliegen, die sich gerne auf offene Wunden setzen und dort alle möglichen Erreger hinterlassen, an die wir Mitteleuropäer – im Gegensatz zu den Wüstenbewohnern – einfach nicht gewöhnt sind. Insofern ist auch mit kleineren Verletzungen nicht zu spaßen und Wunden sollten immer sofort mit antiseptischen Salben desinfiziert und mit Pflastern oder Verbänden vor Fliegen geschützt werden, besser ist besser.

So, ich packe ein, mache noch ein paar Fotos auf dem Weg und melde mich später wieder.


(So kann das dann aussehen, wenn man zu spät zur Meditation kommt und
Maria ohne uns anfängt ..!)

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